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Examensloch

Es war kalt geworden und nach einem langen Tag wollte sie eigentlich nur noch kurz ihre eMails checken, denn sie wartete dringend auf eine Antwort in einer wichtigen Terminsache. Aber wie immer, wenn etwas wichtig ist lässt es auf sich warten. Zeit zum Warten hatte sie eigentlich nicht, denn die Klage, an welcher sie nun schon seit ein paar Tagen bastelte, wollte und wollte nicht fertig werden. Würde er ihr noch einmal Aufschub gewähren? Egal, morgen ist ja auch noch ein Tag.

Sie stand auf, ging ein paar Schritte durchs Zimmer, guckte in den großen Spiegel, starrte an die Decke, schlich in die Küche, ging wieder zurück zum Schreibtisch. Draußen wollte es auch nicht so recht hell werden, seit Stunden typischer Hamburger Nieselregen. Es war einfach zum verrückt werden. Tat sie denn tatsächlich das Richtige? Wieso sollte sie für jemanden kämpfen und gewinnen wollen, dessen Rechtsauffassung sie in keinster Weise teilen konnte? Zum ersten Mal spürte sie diesen Konflikt, wovon ihre Freunde schon seit vielen Jahren sprachen, der ihr auch immer bewusst war, sie aber stets davon ausging, dass sie damit zurechtkommen würde. Schließlich konnten andere das ja auch. Im Studium war alles noch ganz anders. Zwar war man nicht immer mit der gängigen Rechtsprechung oder Lehre einverstanden, und musste sich ab und an doch gegen seinen Willen beugen, wollte man keine drei Punkte riskieren. Aber im Allgemeinen konnte man sich seinen Rechtsstandpunkt aussuchen und diesen dann mit Worten verteidigen. Und darum ging es ja schließlich auch. Bei Jura ist das Recht immer eine Frage der Argumentation.

Nun aber saß sie nahe der Verzweiflung über der Akte und wollte schon alles hinschmeißen. Es quälte sie nur Handlanger des Mandanten zu sein - zumal es ja noch nicht einmal ihr eigener Mandant war! - und den Richter von dessen absurder Rechtsauffassung zu überzeugen. Es war ihr geradezu peinlich. Der Fall war so sonnenklar und dennoch musste sie einen Weg finden, der auf den ersten Blick nachvollziebar war und nicht drohte ins Lächerliche abzuschweifen. Und dann die ständige Angst zu versagen, aufzugeben, den Anwalt anrufen zu müssen und beichten, dass man der Aufgabe leider nicht gewachsen ist. Diese Blöße wollte sie sich widerum auch nicht geben.

Also zurück an den Schreibtisch. Nein, vorher noch mal zur Toilette. Hhm. Ein Kaffee wäre jetzt auch nicht schlecht. Zum Wachwerden. Was gibt denn der Kühlschrank her? Ok. Leer. Vielleicht sollte sie doch vorher noch kurz einkaufen gehen? Frische Luft regt ja auch immer die Gehirnzellen an und die besten Ideen kamen ihr sowieso immer beim Radfahren oder Spaziergehen. AHHHHHHHHH. HEUL. SCHREIKRAMPF.

Irgendwann an diesem Nachmittag sprang sie dann doch über ihren Schatten und argumentierte nach Schema F, ganz so wie sie es in den vergangenen Jahren gelernt hatte. Also doch nichts vergessen. Gegen halb sieben las sie das Werk noch einmal durch, sichtlich erleichtert es hinter sich zu haben und ein wenig stolz, nicht aufgegebenzu haben. Ja, so konnte sie es wohl abgeben.

Schnell packte sie ihren Gi und Handtuch ein, holte das Rad aus dem Keller und machte sich auf den Weg ins Dojo. Eigentlich hatte sie nicht so recht Lust auf Training, wusste aber, dass es ihrer Laune gut tun und sie sich hinterher bestimmt besser fühlen würde. Es war halt der einzige Weg um aus diesem total verkorksten Tag noch etwas Positives rauszuholen. Da waren ihre Freunde, dort fühlte sie sich wohl. Ihre Freunde hörten ihr zu, sagten ihr die Meinung und übten Kritik - aber ließen sie doch nie im Stich.

Als sie spät in der Nacht auf einen zufällig gestoßenen guten Freund dann schließlich die menschenleere Fuhle entlang ging, wurde ihr bewusst, dass sie nicht der einzige Mensch war, der das große Loch nach dem Examen durchlebte. Er erzählte ihr von seinen damaligen Erfahrungen, denen der anderen und dass man sich noch so sehr davor verstecken mag - fast jeder fällt irgendwann dort hinein und stellt dann sein bisheriges Leben in Frage. Denn plötzlich muss man ganz alleine entscheiden, welchen Weg man weiter gehen will. Ein goldener zeigt sich nicht und helfen können die anderen bei der Findung auch nicht. Grübel grübel. Depressionen. Scheiß Leben.

Nein. Es ist eine Chance. Jeder Tiefpunkt hat was Positives. Denn man reflektiert und ändert etwas, entwickelt sich weiter. So ist das halt im Leben. Dennoch ließ sie das Gefühl nicht los, sich am heutigen Tage verkauft zu haben. Muss man denn einige seiner Ideale über den Haufen werfen, nur um ein Ziel zu erreichen?

Endlich zu Hause angekommen, fiel ihr wieder die Geschichte ein, welche ihr vor ein paar Tagen ein Fremder geschickt hatte. Nach nur wenigen Sätzen war sie von der Geschichte gefesselt gewesen, musste sie leider dennoch weglegen, da ihre sonst so in Übermaßen vorhandene Zeit gerade in diesem Moment fehlte. Egal wie spät jetzt war - was bedeutet schon Zeit, wenn man zuviel davon hat und der Wecker eh nicht klingelt? - setzte sie sich noch mal an den Schreibtisch und las die Geschichte. Und las sie wieder. Und wieder.

Jemand fremdes hatte ihr ein Geschenk gemacht: Sie freute sich.

Morgen. Morgen ist auch noch ein Tag.